10. Schritt – Achtsames Joggen
Dieser 10. Artikel zum Thema „achtsames Joggen“ ist Teil der Serie „Achtsamkeit beim Laufen“ und möchte Ihnen das Thema Achtsamkeit im Alltag näher bringen. Schrittweise aufeinander aufgebaut können Sie so von Artikel zu Artikel nachvollziehen, wie Sie Teile Ihres Alltags genussvoller, intensiver und einfach „lebenswerter“ machen können.
Der fünfte Teil des Laufs
Nach diesem vierten Teil, in dem Sie die Aufmerksamkeit auf alle körperlichen und geistigen Wahrnehmungen und den Geräuschen zur gleichen Zeit ausgerichtet haben gehen Sie nun über in den fünften Teil, der sich „offenes Gewahrsein“ nennt.
Im fünften Teil ändern wir die Herangehensweise bezüglich unserer Aufmerksamkeit. Während wir bisher immer die Aufmerksamkeit auf spezielle Objekte gerichtet haben, seien es die Fußsohlen, der Atem, Geräusche oder Gedanken, so lassen wir nun all diese los und richten unsere Aufmerksamkeit auf unsere Aufmerksamkeit selber.
Moment mal, was haben Sie gerade gelesen?
Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit
Ja, doch, Sie haben richtig gelesen – wir richten unsere Aufmerksamkeit auf unsere Aufmerksamkeit. Das heißt, wir nehmen wahr, wo unsere Aufmerksamkeit gerade hin gewandert ist und wo sie nun gerade ist – ohne sie zurück zu holen oder sie in irgendeiner Form verändern zu wollen! Wir beobachten also, wie unsere Aufmerksamkeit scheinbar autonom zu den jeweiligen Phänomenen „hüpft“. Sie ist eine Weile bei diesem und eilt dann weiter zum nächsten – und wir sind uns dessen bewusst. Unser Gewahrsein ist also ganz offen – der Fokus unserer Aufmerksamkeit kann sich frei bewegen – und wir sind uns dessen bewusst. Das ist das eigentlich Neue daran – denn unsere Aufmerksamkeit springt auch im Alltag immer irgendwo hin. Nur ist uns das im Alltag nicht bewusst. Und im Alltag müssen wir unserer Aufmerksamkeit immer hinterher – wie am Nasenring geführt!
Hier bei dieser Phase des achtsamen Joggens ist es jedoch anders: wir wissen in jedem Moment die Antwort auf die Frage: „wo ist meine Aufmerksamkeit gerade?“ Und egal wo sie ist, wir greifen nicht ein in dieser Achtsamkeitsübung! In diesem Teil der Übung nehmen wir also wahr, wie unsere Aufmerksamkeit wandert – ganz autonom – so, wie unser Atem, der ja auch dann weiter geht, wenn wir abgelenkt sind oder am Schlafen. Ganz ohne unser Zutun. Vielleicht von der Wahrnehmung einer Unebenheit auf dem Boden hin zu einem Gedanken „hab ich da auf etwas getreten?“ – hin zu einem Geräusch – wieder hin zu einem Gedanken „warum ist da so ein Krach?“ – hin zu einer Emotion (vielleicht Ärger, oder Freude) – dann wieder zum Atem oder vielleicht zu einem andern Geräusch – … und so immer weiter … fortlaufend … so lange wir wach sind … nicht nur beim Laufen …
Und der Unterschied zum Alltag ist hier, in diesem Teil unserer Übung des achtsamen Joggen, dass wir dieses Wandern unserer Aufmerksamkeit selber betrachten.
Willkommen im offenen Gewahrsein!
Wir üben so, unser Gewahrsein ganz zu öffnen, um nicht nur alle Sinneseindrücke aufmerksam zu bemerken, sondern sogar auch die Bewegungen unseres Geistes – also Gedanken, Tagträume, innere Kommentare, Erinnerungen an die Vergangenheit, etc..
Die Idee dahinter ist, dass dieses Wahrnehmen von dem „was gerade ist“ ja die Grundlage von allem anderen ist. Nehmen wir es aber nicht wahr, so können wir es nicht verändern, wenn wir dies möchten, denn es scheint ja „unbewusst“ zu sein und „nichts mit uns zu tun zu haben“. Und auch keine Möglichkeit, es zu genießen, wenn wir es möchten. Es ist ja in diesem Moment „nicht da“ für uns.
Freiheit
Nehmen wir also mehr von dem wahr „was gerade ist“, so haben wir mehr Freiheit. Die Freiheit, die Dinge der Welt mehr zu genießen, wenn sie uns gefallen oder aber die Freiheit, einen Ansatzpunkt dafür zu finden, die Dinge zu verändern, die uns missfallen.
Und dies können wir sehr gut beim Laufen trainieren. Einfach deswegen, da beim Laufen der Geist sich nicht so gut „festbeißen“ kann an den Problemen oder an den Sehnsüchten, die uns in den Kopf kommen und uns damit manchmal ganz einnehmen können.
Das gleiche gilt natürlich auch andere Ausdauersportarten, sei es Schwimmen, Rudern oder anderes. Denken Sie aber daran – auch bei diesen Sportarten können wir unsere Achtsamkeit nur üben, wenn wir nicht „am Limit“ trainieren, sondern die Dinge „laufen lassen“. Konsequent und freundlich dran bleiben, ohne uns zu überfordern.
Zusammenfassung und Ausblick
Trainieren Sie diesen fünften und letzten Teil Ihres Achtsamkeitstrainings beim Laufen zu Beginn immer erst im Anschluss an die ersten vier Teile. So können Sie Schritt für Schritt das Eintauchen ins offene Gewahrsein üben. Denn der Grad ist sehr schmal zwischen „offenem Gewahrsein“ und „ziellos geistig herumdümpeln“ und tagträumen. Hier bedarf es zu Beginn eines geordneten Zugangsweges. Und nach einer gewissen Zeit werden Sie diesen Zustand des Offenen Gewahrseins, also des bisherigen fünften Teil des Achtsamkeitstrainings, so gut kennen, dass es immer einfacher fallen wird, direkt in diesen Zustand hinein zu gehen.
So können Sie nach einer gewissen Zeit direkt ab Beginn des Laufs in den Zustand des Offenen Gewahrseins eintauchen und so Ihr achtsames Joggen in der Natur rundherum genießen – mit allen fünf Sinnen! Viel mehr und intensiver, als Sie dies vorher getan haben.
Bleiben Sie dran – freundlich und konsequent
Doch behalten Sie auch folgendes im Hinterkopf: das Offene Gewahrsein ist nicht die Königsdisziplin, das Ein und Alles, das Sie immer und jedes Mal erreichen müssen! Je nach Tag, eigener Form, Ihren entsprechenden Umständen in diesem Moment, kann es sehr viel passender und entspannender sein, nur ein oder zwei der fokussierteren Zustände an diesem Tag beim Lauf zu kultivieren. Wie z.B. Achtsamkeit auf Geräusche oder auf die Wahrnehmung des Körpers.
Haben wir nämlich sehr viele Gedanken im Kopf, sind große Emotionen vorhanden oder vielleicht sogar ein körperliches Unwohlsein, so kann es sehr viel einfacher und auch entspannender sein, z.B. nur gelassen den Atem zu spüren, oder sich in einem Teil des Laufs auf das Spüren der Fußsohlen und dann auf das Spüren des ganzen Körpers aus zu richten. In diesem Fall forcieren Sie nichts, denn wenn Sie beginnen, darum zu kämpfen, dass Sie „endlich“ das Offene Gewahrsein erreichen, so ist das der beste Weg, es nicht zu erreichen – denn Anspannung und Stress werden sich Ihnen leider in den Weg stellen!
Leider ist hier das Vorgehen recht paradox – doch je weniger Sie sich anstrengen, desto einfacher wird es werden beim achtsamen Joggen. Leider gilt aber auch: wenn Sie nicht dran bleiben, also nichts tun, dann ist es sehr sehr unwahrscheinlich, dass es „einfach so“ auftritt. Kultivieren Sie also am Besten das freundliche und entspannte Dran-bleiben – nicht nur beim achtsamen Joggen, sondern ja vielleicht auch in vielen anderen Dingen des Alltags.
Achtsames Joggen – viel Freude dabei!
Ihr
Ralf Rosenbaum
Achtsamkeit und MBSR Köln
– MBSR-Lehrer
– Achtsamkeitscoach
– Heilpraktiker (Psychotherapie)